Außerhalb der Region werden sie vorrangig mit
dem Hinduismus in Verbindung gebracht, der islamische Faktor wird
dagegen selten erwähnt. Ihr "Anderssein" birgt dabei Problematiken mit
sich, die einigen feministischen und queeren Diskursen entgegenstehen.
Vermehrt betreten sie den öffentlichen Raum und fordern Rechte für sich
ein.
"Sie tauchen oft plötzlich auf, im Nu wird es laut und schrill – und
wenn sie gegangen sind, fühlt man sich so, als hätte es einen aus einem
kurzen aber heftigen Albtraum gerissen. Ich mag sie nicht, aber man muss
nett zu ihnen sein, denn sie verfügen über magische Kräfte und können
dich leicht verhexen", mein westbengalischer Sitznachbar im Zug schwieg
für ein paar bedeutungsvolle Sekunden und schaute der grellen Truppe
nach, die singend und scherzend durch den Gang unseres Wagons zog. Es
war nicht meine erste Begegnung mit diesen eigentümlichen Gestalten
gewesen, gleichwohl weckten seine Worte mein vermehrtes Interesse an
ihnen.
Veraltete, westliche Begriffe wie Eunuch, Kastrat oder Zwitter sind
auf die Hijras eher nicht zutreffend. Der Begriff vom so genannten
"dritten Geschlecht" (third gender)
scheint mir für sie passender zu sein. Wenn ich von Hijras rede
und schreibe, benutze ich trotzdem den femininen Genus, da ich das
Neutrum in diesem Fall als respektlos halten würde und sie selbst sich
zwar als Wesen, das weder Mann noch Frau ist, bezeichnen, gleichwohl
aber weibliche Vor- und Kosenamen wählen.
Hijras - Begriff und Organisation des dritten
Geschlechts:
Es gibt keine genauen Zahlen über die Anzahl von Hijras in Südasien,
Schätzungen belaufen sich auf 700.000 bis zu mehreren Millionen
vorrangig in Indien, Bangladesch, Pakistan und Nepal. Neben dem Begriff
der Hijra, der hauptsächlich im Urdu und Hindi verwendet wird,
existieren auch andere Bezeichnungen wie Mukhannath oder
Muhannas (arabische Bezeichnung für kastrierte Männer in
Frauengestalt, bzw. weiblichen Seelen in Männerkörpern), Khusra
(Panjabi), Alis (Tamil) und Hizra (Bengali). Hijras
sind im hinduistischen und auch im muslimischen Umfeld anzutreffen. In
den buddhistisch geprägten Gegenden Südasiens kommen sie - im Gegensatz
zu den Kathoey, die sich im südostasiatischen Thailand oft
selbst auch als Ladyboy bezeichnen - selten vor. Die heutigen
Kathoey weisen dabei durchaus einige Übereinstimmungen mit Hijras
auf, da sie einerseits häufig Transsexuelle sind, d.h. biologisch als
Männer geboren wurden, und sich gefühlsmäßig nicht als "männlich"
empfinden, jedoch streben sie mehrheitlich eine geschlechtsanpassende
Operation an, um äußerlich vollständig zu einer Frau zu werden (sogenannte
Mann-zu-Frau-Transsexuelle oder auch Transfrauen).
Trotz ihrer weiblichen Kleidung haben Hijras unter anderem durch eine
starke Behaarung oft ein eher männliches Erscheinungsbild. Ältere Hijras
haben oft Glatzen und tragen selten Perücken. Nicht nur bei
Auseinandersetzungen treten sie durchaus mit lauter, männlich-tiefer
Stimme auf. Sie benehmen sich aus Sicht der Mehrheit der von einem
traditionellen Frauenverständnis geprägten Südasiaten häufig nicht sehr
"ladylike". So verkörpern sie wiederum teilweise auch Männerfantasien,
für die "anständige" Frauen nicht zur Verfügung stehen. Ihre frechen
Sprüche, offenes Spielen mit sexuellen Reizen und Flirten scheinen im
starken Gegensatz zu den oberflächlich eher prüden Gesellschaften in
Südasien zu stehen. Dies verstärkt den Eindruck, dass es sich bei ihnen
eher um eine eigene Mischform handelt, die in ihrer Art und mit einer
eigenen "Teils-Teils-und-Weder-Noch-Ausprägung", eine individuelle
gesellschaftliche Nische besetzt. Dies steht im Gegensatz zu der
dichotomen Frau-Mann-Aufteilung andernorts. So herrscht beispielsweise
in Europa größtenteils die Auffassung vor, dass transsexuelle Menschen
entweder ganz Mann oder Frau zu sein haben. Mischformen werden kaum
akzeptiert, von dem z.B. durch David Beckham vorgelebten Modetrend der
"Metrosexualität" abgesehen, der weniger einer sexuellen Ausrichtung als
einem extravaganten Lebensstil entspricht.
Hijras sind nach traditioneller Sichtweise eine bestimmte Form von
Mann-zu-Frau-Transexuellen, für die es früher bekanntlich keine Option
zu einer geschlechtsanpassenden Operationen gab, die sich aber in der
Regel einer Kastration unterzogen oder als Hermaphrodit geboren wurden.
Hijras unterscheiden sich aus eigener Sicht von den sogenannten
Kotis (homosexuelle Transvestiten, die ihre männlichen
Geschlechtsteile behalten und die mit ihren Männern (Giriyas)
in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenleben und dabei die Frauenrolle
übernehmen). Hijras können ebenfalls in eheähnlichen Beziehungen mit
Männern leben, sind in der Regel jedoch integriert in eine Hijra-Kommune.
In den letzten Jahren verschieben sich jedoch diese Schranken,
Transvestiten und Transsexuelle definieren sich neuerdings zunehmend
auch als Hijras, was diese größtenteils akzeptieren. Mit den neuen
Möglichkeit der Hormontherapie, operativer Geschlechtsanpassungen und
kosmetischer Chirurgie ergeben sich neue Möglichkeiten und Formen.
Hijras sind mehrheitlich im städtischen Umfeld zu finden, wobei sie zu
den ärmeren Bevölkerungsschichten gehören. Dies beruht einerseits auf
ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung - entsprechend ihrer Akzeptanz
des Status als Hijra können sie sich nur in dem Rahmen der ihnen
zugedachten Rollen bewegen. Andererseits haben sie selber häufig nur
einen sehr begrenzten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, 70 bis 80 Prozent
von ihnen können kaum oder gar nicht lesen und schreiben. Viele kommen
aus einem armen Umfeld und/oder wurden von ihren Familien verstoßen, um
Spott und Häme von der Familienehre abzuwenden.
Hijras leben meistens in eigenen Gemeinschaften oder Kommunen, die
hierarchisch geordnet sind. Mehrere Hijras folgen dabei als Chela
(Schüler) ihrem Guru, diese Hijra leitet die lokale
Gemeinschaft und ist wiederum überregionalen Nayaks
unterstellt, die eine spirituelle Leitfunktion ausüben. Das Geld
verwaltet meistens die Guru-Hijra, anderer Besitz wird zum großen Teil
geteilt. Die Verwendung maskuliner Termini - Chela, Guru
und Nayak - zur Bezeichnung interner Hierarchien im Gegensatz
zu ihren bevorzugten femininen Vornamen und Verwandtschaftskategorien
scheint dabei wiederum auf eine Zwischenstellung der Hijra zu verweisen.
Das Kastrationsritual:
Die Mehrheit der Hijras Südasiens durchschreitet noch immer den
schmerzhaften Weg der Kastration außerhalb jeglicher medizinischer
Versorgung, zumal diese Operation Ärzten offiziell verboten ist, im
Gegensatz zu Sterilisationseingriffen. Vielen fehlt schlicht das Geld
und das Wissen über andere Möglichkeiten. Außerdem ist die
halböffentliche Kastration als Ritual der Transformation in das dritte
Geschlecht innerhalb traditionell ausgeprägter Hijra-Gemeinschaften noch
immer sehr verbreitet. Inwiefern Hijras innerhalb ihrer Gemeinschaft vor
oder ohne Kastration, z.B. im Falle von Intersexualität, als vollwertige
Hijras anerkannt werden, ist schwer allgemeingültig zu bestimmen, da es
regionale Unterschiede gibt.
Es gibt verschiedene Kastrationsrituale. Im folgenden soll die
traditionelle Form des Rituals beschrieben werden, von der die meisten
Berichte und Schilderungen existieren und welche vornehmlich in
Westindien und im südlichen Pakistan praktiziert wird.
Über den geeigneten Zeitpunkt zur Kastration entscheidet hierbei die
älteste Hijra, die zugleich die Position des Gurus innerhalb der lokalen
Hijra-Gemeinschaft einnimmt. Die zu kastrierende Person hat zu diesem
Zeitpunkt in der Regel schon einen längeren Zeitraum innerhalb der
Gemeinschaft gelebt und hat einerseits ihre Eignung hierfür bewiesen und
andererseits mehrfach ihre Bereitschaft für diesen endgültigen Schritt
bekundet. Berichte über die Entführung von Jungen, die dann schnell
"entmannt" wurden, werden zwar gerne von Außenstehenden erzählt, konnten
aber in keinem Fall nachgewiesen werden.
Steht der Termin für das Ritual fest, so beginnt für die betroffene
Person eine Fastenzeit, zugleich werden im Vorfeld häufig Opiate
konsumiert, so dass am Tag des Rituals der Proband sich in einem
berauschten Zustand befindet. In die Vorbereitungen im Vorfeld als auch
in die eigentliche Kastration bzw. die zahlreichen rituellen Handlungen
ist die gesamte Gemeinschaft involviert und Mitglieder benachbarter
Hijra-Gemeinschaften werden dazu eingeladen.
Beim entscheidenden Ritual versammeln sich zahlreiche Hijras meistens in
einem Hinterhof um die zu kastrierende Person. Dieser werden Hodensack
und Penis abgeschnürt und dann mit einem Messer in einer bogenförmigen
Bewegung abgeschnitten. Die versammelte Menge ruft im hinduistischen
Kontext derweil Muttergottheiten an und fleht für das Gelingen, im
muslimischen Kontext werden insbesondere Sufi-Heilige um Beistand
gebeten. Nach dem Schnitt wird ein kleines Holz- oder Metallröhrchen in
den Harnleiter eingefügt damit dieser beim Schließen der Wunde geöffnet
bleibt. Die Wunde wird nicht sofort abgedeckt damit das Blut den Rest
der Männlichkeit symbolisch hinausspült, teilweise wird dies auch als
rituelle Menstruation angesehen. Schließlich wird heißes Öl über die
Wunde gegossen und eine Kompresse mit Heilkräutern angelegt um den
Heilungsprozess zu beschleunigen. Die zurückbleibenden Narben sind
allerdings zumeist groß und entstellend. Wundinfektionen kommen häufig
vor. Eine Geschlechtsanpassung findet hierbei nicht statt und ist auch
nicht beabsichtigt, etliche Hijras haben nach dieser Kastrationsform
Probleme mit der Kontrolle des Harnhaltens.
Da das Kastrationsritual offiziell verboten ist, jedoch von der lokalen
Polizei meistens geduldet wird, bewegen sich die Beteiligten dabei in
einer Grauzone und für die betroffene Hijra besteht erhebliche
Lebensgefahr. Problematisch sind hierbei insbesondere die mangelhaften
hygienischen Zustände bei der Kastration und bei den
"Operationsinstrumenten", es fehlt an medizinisch-chirurgische
Kenntnisse, zudem kann beim Auftreten von Komplikationen in den
seltensten Fällen medizinische Nothilfe in Anspruch genommen werden.
Einerseits reicht das Geld selten für eine Krankenhausbehandlung und die
nötigen Bestechungsgelder können aufgrund des meldungspflichtigen
Vorfalls auch nicht aufgebracht werden.
Mythologischer Hintergrund:
Bei der mythologischen Betrachtung der Hijras dominiert in der
westlichen Literatur der hinduistische Hintergrund, da der Hinduismus in
seiner starken Vielfalt scheinbar sehr gute Erklärungsansätze bietet.
Der ebenfalls wichtige muslimische Faktor wird dagegen eher selten
erwähnt, obwohl der südasiatische Islam auch sehr verschiedene Formen
und Ausprägungen beinhaltet, der wichtigen Einfluss auf die
Hijra-Gemeinschaften ausübt. Rund die Hälfte der Hijras sind Muslims.
Die hinduistische Mythologie ist reich an Göttern und mystischen Wesen,
die ihre geschlechtliche Identität wechseln, außerdem gibt es viele
Zwitterwesen und jeder männlichen Kraft steht ihr weiblicher Konterpart
entgegen, oftmals wiederum in ein und derselben Gottheit vereint.
Im Epos des Mahabharata finden sich mehrere Geschichten, die als
mythologischer Ursprung der Hijras herangezogen werden können. Am
verbreitetsten ist die Geschichte von der Hochzeit Avaranans, welche
beim größten Hijra- Festival Indiens im Frühjahr jeden Jahres im Tempel
von Koovagam, 250 km südlich von Chennai im Unionsstaat Tamil Nadu
zelebriert wird. Avaranan, Sohn des Helden Arjuna, sollte in der
darauffolgenden Nacht in einer Schlacht zwischen den Brüdern Pandava mit
ihren Cousins Kaurava geopfert werden, um einen taktischen Vorteil zu
erlangen. Jedoch wollte man nicht, dass er als Junggeselle stirbt.
Allerdings gab es Schwierigkeiten eine geeignete Braut zu finden, denn
niemand wollte seine Tochter verheiraten, damit diese tags darauf schon
mit dem Stigma der Witwenschaft behaftet sei. Krishna erbarmte sich in
dieser Situation, verwandelte sich in die schöne Mahoni, heiratete
Avavaran und vollzog wohl auch die Ehe. Als sein Gatte dann starb, warf
Krishna die Heiratssymbole (goldenes Eheband, Blumengirlande, Zehenringe
und Glasreifen) gemäß des Trauerrituals in das Feuer des
Scheiterhaufens. Allerdings verwandelte er sich nicht zurück in einen
Mann und blieb in der Frauengestalt gefangen.
Dieses Schicksal ereilt Krishna auch in einer anderen Geschichte.
Parvati, Ehefrau des Gottes Shivas, wird von einem König begehrt. Als
sie in einem See badet, versucht dieser ihr nachzustellen. Krishna, der
dies verhindern will, nimmt die Gestalt Parvatis an und der lüsterne
König erlebt so eine erotische Begegnung mit der falschen Parvati. Auch
in diesem Fall kann sich Krishna nicht mehr retransformieren. Einige
Hijras deuten letztere Geschichte jedoch etwas anders und meinen,
Krishna wollte sich nachdem Erlebten gar nicht mehr in einen Mann
zurückverwandeln. Die vielfach Hijras zugedachte Zauberkraft im
Hinduismus resultiert aus dem Glauben daran, dass zugleichen Teilen in
ihnen männliche und weibliche Energie eingeschlossen ist, wobei dennoch
beide kein neues Leben durch Geburt schenken können, was die Zaubermacht
noch verstärkt .
Im Islam dominiert dagegen eher die mystische Seite. Hier geht man von
einer weiblichen Seele aus, die in einem männlichen Körper gefangen ist.
Ihre besonderen Kräfte resultieren daraus, dass ihre Gebete besonders
kraftvoll sind, da Gott sie dafür entschädigt, dass sie weder Kinder
bekommen noch in einer normalen Familie leben können. Sie sollen
außerdem in der Tradition der Eunuchen stehen, die das Grab des
Propheten Mohammed und die heilige Moschee in Mekka bewachten. Etliche
hochrangige Hijras betonen Teil einer Gemeinschaft zu sein, die in den
frühen Zeiten des Islam bis ins maurische Spanien reichte. Zahlreiche
Sufi-Heilige und Derwische bezeichneten sich als Bräute Gottes, so wie
z.B. etliche Anhänger des Suhrawardiyya-Suhagiyya-Sufi-Ordens oder auch
der Sufi-Dichter Yatim Shah sowie zahlreiche andere historische
Personen. Beim Urs-Festival von Khawaja Moinuddin Chisti in Ajmer
versammeln sich Hunderte Hijras aus Pakistan und Indien (siehe auch Von
heiligen Männern und ihrer "Heirat" mit Allah). Viele Hijras aus
Südasien zelebrieren auch die Hadj nach Mekka.
Viele Sitten und Gebräuche ähneln sich stark innerhalb der
südasiatischen Hijra-Gemeinden. Häufig wird auch ein synkretistischer
Glauben praktiziert. Viele Sufi-Mystiker werden auch von hinduistischen
Hijras verehrt und muslimische Vornamen scheinen sich ganz besonderer
Beliebtheit zu erfreuen. Gemeinsamkeiten haben sie auch am Ende ihres
Lebens, denn Hijras werden stets beerdigt und nicht verbrannt.
Geschichtliche Rolle der Hijras Südasiens:
Neben ihren mystischen Kräften und damit verbundenen religiösen
Dienstleistungen waren Hijras im hinduistischen Kontext anscheinend
schon immer im weiter gefassten Unterhaltungsbereich tätig, sei es als
Sängerinnen und Tänzerinnen oder - wie u.a. im Kamasutra geschildert -
auch als Tempelprostituierte. Im Kastenwesen waren sie weit unten
angesiedelt, genossen aber eine kultische Sonderstellung, da sie weder
Mann noch Frau sind.
Im muslimischen Kontext erhielten viele Hijras einen gehobeneren Status.
Sie bewachten die Frauengemächer, arbeiteten als Dienerinnen, erzogen
die Kinder, lehrten häufig auch den Koran. Zahlreiche Hijras gelangten
auch in einflussreiche Positionen und übten wichtige politische Ämter
aus oder wirkten auch im muslimischen Kontext im bereits erwähnten
Unterhaltungsbereich.
Mit der britischen Herrschaft veränderten sich viele Bedingungen für
Hijras. Kastrationen wurden verboten und gelegentlich hart bestraft. Die
Kriminalisierung von jeglicher Homosexualität als sodomistische Handlung
traf insbesondere Hijras. Tausende wurden oft willkürlich verhaftet. Das
koloniale System des British Raj verdrängte sie aus angesehenen
Positionen und zwang sie in die gesellschaftlichen Nischen, so dass
ihnen außer im Unterhaltungsbereich nahezu keine Betätigungsfelder mehr
offen waren. Die Unabhängigkeit brachte keine Besserung ihrer Situation,
da die diskriminierenden kolonialen Gesetze ihre Gültigkeit behielten
und die herrschenden Eliten und weite Teile der Gesellschaft die
viktorianischen Prüderie längst verinnerlicht hatten.
Kleine Lichtblicke, wenig Besserung – heutige
Lebenssituation von Hijras:
Noch immer führen Hijras ihr Leben am Rande der Gesellschaften
Südasien, ihre Diskriminierung hält weitestgehend an. Andererseits
wandelt und öffnet sich die Hijra- Gemeinschaft ihrerseits und bindet so
neue Kräfte ein. Hijras können sich in den seltensten Fällen für "Hijra-
untypische" Berufe bewerben. Wachleute hindern sie schon am Betreten von
Büros und jedes Formular fragt danach, ob man weiblich oder männlich
ist. Die meistens Berufe sind für sie weiterhin traditionell tabu. Die
Analphabetenquote unter ihnen ist sehr hoch, viele mussten ihre
Schulausbildung abbrechen und kommen aus den ärmsten Schichten, noch
wenige beherrschen das Englische und haben Zugang zu Informationen oder
können überregionale Netzwerke für ihre Interessenvertretung bilden. Die
medizinische Versorgung ist in der Regel für sie weiterhin sehr prekär.
Sie werden oft Opfer von sexueller Gewalt durch Kriminelle und Zuhälter,
sofern sie keinen Rückhalt durch eine starke Hijra- Gemeinschaft vor Ort
haben. Außerhalb ihrer oft ghettoartigen Kommunen sind der Missbrauch
durch Polizei und andere Sicherheitskräfte leider der Normalfall. (vgl.
Homosexualität und Menschenrechte in Indien)
So gehen sie ihrem "normalen Handwerk" nach, versammeln sich vor
Läden und treiben ihre Späße mit den irritierten Kunden bis der
Ladenbesitzer sie mit einer Spende zum Weitergehen bewegt und ziehen
bettelnd durch Züge. In den Städten erfahren sie über ein lokales
Netzwerk von Geburten und Hochzeiten, kommen dann ungefragt, sofern sie
nicht an sich geladen sind, und tanzen und singen vor dem Haus bis man
sie einlässt, um das Neugeborene zu segnen. Insbesondere bei der Geburt
von Intersexuellen hat dies einen historischen Grund, der aber teilweise
noch heute relevant ist: War das Neugeborene offensichtlich
intersexuell, so nahmen sie es auf und wandten so gesellschaftliche
Missachtung oder Spott von der Familie ab und retteten so teilweise auch
das Leben des Kindes, das sonst nicht selten vernachlässigt oder
weggesperrt worden wäre. Dies geschieht gelegentlich noch heutzutage,
insofern nehmen Hijras auch in diesem Bereich eine soziale Funktion war.
In pakistanischen Metropolen unterhalten einige Ehemänner eine
außereheliche Beziehung zu einer Hijra, was nach einigen Traditionen
nicht als Ehebruch gilt. Die Ausbreitung sehr strikter bis hin zu
extrem-islamistischen Strömungen führt allerdings zu vermehrten
gewaltsamen Übergriffen auf Hijras.
Die Mehrheit der Hijras in Südasien muss daneben der Prostitution
nachgehen. Es gibt keine gesonderten Erhebungen über die HIV-Quote bei
Hijras, aber in Mumbai (Bombay) beispielsweise wird insgesamt von
einer Quote von mindestens 60 Prozent HIV-Infizierten unter den
SexworkerInnen ausgegangen. In diesem Bereich droht ihnen zudem noch die
so genannte "trans / gay panic" durch Freier. Dies ist eine Ausrede mit
der Freier ihre gewaltsamen Vergehen an Hijras gegenüber der Polizei und
Gerichten verteidigen, weil sie angeblich die Hijras zuerst für Frauen
hielten und dann in Wut über die "böswillige Täuschung" oder scheinbare
"perverse Anmache" ausgerastet seien. Diese Ausrede wird von den
Sicherheitskräften und der Judikative meistens akzeptiert. Hijras, die
Übergriffe anzeigen wollen, droht häufig Spott bis hin zu
Vergewaltigungen durch die Polizisten selbst.
Aber es gibt auch kleine Fortschritte: Hijras haben häufiger Auftritte
in der Gesellschaft und in Filmen, einige thematisieren sogar das Leben
von Hijras. So handeln etwa die Filme "Darmiyaan" und "Tamanna" vom
Leben der Hijra Tikku. "Darmiyaan" erzählt die Geschichte ihrer Jugend
und von der Beziehung zu ihrer Mutter, einer einst in den 1940er Jahren
erfolgreichen Bollywoodschauspielerin, und in "Tamanna" nimmt sich Tikku,
die inzwischen als Maskenbildnerin in Bollywood arbeitet, eines
ausgesetzten Mädchens an. Um die Erziehung von Tamanna zu bezahlen,
gründet sie mit mehreren Hijras eine Wohngemeinschaft – und als Tamanna
entführt wird, halten alle zusammen und kämpfen für die Befreiung des
Mädchens. In anderen Bollywood-Filmen treten sie allerdings eher zur
Belustigung des Publikums auf und hierbei kommt es zur Bedienung von
herrschenden Klischees. Zunehmend erobern sie sich jedoch andere Räume.
In den letzen Jahren wurden in Indien zahlreiche Schönheitswettbewerbe
für Hijras veranstaltet über die in der Presse ausgiebig berichtet
wurde. In einigen Modeschauen liefen sie zusammen mit normalen Modells
über den Laufsteg, wobei es sich bei diesen Veranstaltungen vielfach
eher um gezielte Schockeffekte geschickter Marketingfachleute als um
wahre antidiskriminierende Absichten dahinter handelte.
Einige Hijras betreten zunehmend die politische Bühne. Als
Galionsfigur diente hierfür Shabnam Mausi, die ins Parlament des
indischen Unionsstaates Madhya Pradesh einzog. Ihr folgten weitere
Hijra-Politikerinnen, wie Asha Devi, Bürgermeisterin der mittelgroßen
Stadt Gorakhpur und ihre Amtskollegin Kamala Jaan in Katni. Auf lokaler
Ebene betätigen sich zunehmend Hijras, nicht nur in Indien - auch in den
anderen südasiatischen Staaten -, auf die große politische Bühne hat es
allerdings (noch) keine geschafft.
Wenn auch noch im kleinen Rahmen vernetzen sich Hijra- Aktivistinnen.
Nationale Netzwerke in Indien, Pakistan, Bangladesch und Nepal sind in
naher Zukunft unwahrscheinlich. Ein südasiatischer Zusammenschluss wird
- falls er je realisiert werden könnte – noch erheblich länger auf sich
warten lassen. Unterstützung erfahren Hijras nur in einem sehr geringen
Maße, meistens im Kontext von AIDS-Präventionsprogrammen. Problematisch
gestaltet sich ebenfalls die Zusammenarbeit im Bereich der Kooperation
mit einigen Frauenrechtlerinnen, die teilweise den Hijra vorwerfen, der
sexuellen Ausbeutung Vorrang zu leisten. Vielen Hijras fehlt wiederum
einfach der Zugang zu vielen Thematiken, da sie sich selber nicht als
Frauen definieren sondern als drittes Geschlecht. So fordern sie keine
besseren Frauenquoten, sondern eigene Quoten für sich und auch im
Bereich von Erbrechten u.ä. nehmen sie konträre Positionen ein. Einige
Aktivistinnen für Lesbenrechte kritisieren, dass ein Teil der Hijras
lesbische Liebe argwöhnisch beäugen, wenn sie ihr nicht sogar aus einer
traditionalistischen männlich-chauvinistischen Sichtweise ablehnend
gegenüberstehen. In Bezug auf schwule und transsexuelle Diskurse verhält
es sich ähnlich, wenn hier allerdings mehr Berührungspunkte bestehen.
Generell wird von vielen Hijra- Aktivisten befürchtet, dass sie von
bestimmten Seiten für deren Interessen vereinnahmt werden sollen und
dabei ihr eigener gesonderter Status jenseits der sexuellen Dichotomie
verloren ginge.
Vorerst aber bleibt ihnen ihre Besonderheit erhalten. Ihre
unübersehbare Anwesenheit in Zügen und Basaren wird weiterhin ihre
Mitmenschen irritieren. Sie werden weiter mit Diskriminierungen leben
müssen.
Dieser Beitrag gehört zum
Schwerpunkt:
http://www.suedasien.info/schwerpunkte/675.
Nun folgen einige Beispiele von Hijras in Indien.
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